Bechukotai am 15. Mai 2020

Meine liebe Gemeinde, liebe Freunde, ich erlaube mir heute Abend tatsächlich über unseren Wochenabschnitt zu sprechen. Über die schreckliche Pandemie hören wirgenug und erleben wir sie leider täglich haut nah. Ihr seht jetzt auch einen langhaarigen Rabbiner…Ich weiß, ihr vermisst mein Humor, also wem meine langen Haare nicht gefallen, soll sich melden.

Eigentlich lesen wir einen Doppel-Wochenabschnitt, namens B‘Haru B’Chukotai aus dem Dritten Buch Moses, Wajikra, ab Kapitel 25. Ich werde einige Gedanken mit euch über B’Chukkotai austauschen. אם בחוקותי תלכו ואת מצוותי תשמרו ועשיתם אותם „Wenn ihr nach meinen Gesetzen wandelt und meine Gebote beachtet und sie haltet“ so beginnt unser Wochenabschnitt. Und in einem anderen Vers lesen wir: ואם לא תשמעו לי ולא תעשו את כל המצוות האלה„Wenn ihr mir aber nicht gehorcht und haltet alle diese Gebote nicht.“ Wir sprechen über „Segen und Fluch“, in der Tora. Wenn wir also die Gesetze halten, nun mit meinen Worten ausgedruckt: wir werden den Regen zur rechten Zeit erhalten, wir werden genug Lebensmittel haben und wir werden sicher im Land Israel leben. Der Ewige wird uns fruchtbar machen, uns vermehren und den Bund mit uns halten. Wenn wir aber die Gesetze verachten, die Gebote nicht achten und den Bund brechen, dann aber! Der Ewige wird sein Zorn gegen uns richten, unsere Feinde werden uns schlagen, unsere Hasser werden über uns Gewalt ausüben, wir werden fliehen. Der Ewige wird über uns die Pest senden, heute könnten wir behaupten: die Corona Virus senden, unsere Städte verwüsten, unsere Heiligtümer zerstören. Der Ewige wird uns unter die Völker zerstreuen. Die Tora schildert sowohl Segen als auch den Fluch in sehr farbenreicher Sprache. Einerseits das nationale Wohlergehen als Folge der treuen Beachtung des Bundes und der Gesetze. Andererseits das Unheil, das über uns und ganz Israel ausbricht, wenn wir dem Bund untreu werden.Wie gehen wir heute mit diesen Versen der Tora um? Unsere Reaktion wird wahrscheinlich anders ausfallen als diejenige unserer Vorfahren. Wir werden vermutlich, diese Verse mit Fragezeichen versehen: werden tatsächlich Frömmigkeit und Gehorsam zur Tora materiell belohnt? Die Lehre vom irdischen Lohn und irdischer Strafe wird in der Bibel häufig leidenschaftlich vorgetragen. Immer noch glauben viele Menschen so, es ist schwer dagegen zu argumentieren. Vernunftmäßig können wir vieles nicht akzeptieren, aber dann befinden wir uns auf einem gefährlichen Glatteis. Schließlich können wir dann sehr vieles in der Tora vernunftmäßig kaum akzeptieren.In der biblischen Zeit herrschte die Einstellung, dass wenn das Volk Gott gegenüber loyal gesinnt war, würde dem Volk wohl ergehen, wenn aber es treulos war, würde das Volk bestraft. Die Vorstellung einer kollektiven Verantwortung veränderte sich als die Propheten die religiöse Bedeutung des Einzelnen betonten. Der Prophet Ezechiel entwickelte eine extreme und heute kaum nachvollziehbare Vergeltungsvorstellung. Nach Jehezkel wird der Gerechte, mit einem langen Leben und Wohlstand gesegnet, während der Böse ein frühes und schlimmes Ende erfahren wird. Solange die Menschen in der Vorstellung der kollektiven Verantwortung dachten, konnte das Problem irgendwie noch gelöst werden.Wenn ein Volk überwiegend gerecht war und deshalb es ihm gut erging, hatten auch die Bürger, die es nicht verdient hätten, an diesem guten Schicksal anteil. Und umgekehrt, wenn nationale Bosheit eine nationale Katastrophe für das Volk veranlasste,war auch eine Minderheit, die gut war, auch untergangen.Vielleicht enthält diese Lehre doch einen Funken Wahrheit. Die Stabilität einer Nation hängt tatsächlich weitgehend von der Ehrlichkeit seiner Bürger und der Gerechtigkeit seiner Institutionen ab. Moralischer Verfall kann politischer Zerfall nach sich ziehen.Trotzdem frage ich mich: ist Moralität die einzige Bedingung für ein nationales Überleben? Friedliche und kulturell schöpferische Völker wurden durch andere Völker unterdrückt oder ausgelöscht. Wer kann es heute behaupten, dass die Ermordung von fast eine Million Menschen in Ruanda in den 90-er Jahren, oder Auschwitz gerechte Strafen für die Opfer seien?? Noch weniger ist die Übertragung dieser Lehre auf die einzelnen individuellen Menschen, wie wir es bei Jehezkel gelesen haben, haltbar. Es sei denn Torakommentatoren helfen uns, diese Verse anders zu interpretieren.Unmoralische und verbrecherische Menschen können Jahre der Gesundheit, des Erfolgs und der Achtung genießen. Und umgekehrt, wie viele gerechte und gute Menschen leiden und sterben all zu früh.Man könnte auch sagen, dass die Theorie einer automatischen Vergeltung unmoralisch ist, denn wenn auf Sünde regelmäßig eine Strafe folgt, dann folgt daraus, dass jedes Unglück eine Verurteilung ist. Diese Vergeltungstheorie ist also eine Glaubenssache, die kaum bewiesen oder widerlegt werden kann. Was können wir heute, ohne, dass wir die gelesenen Toraverse verwerfen, sagen?Erstens:Es gibt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Verdiensten eines Menschen und seinem Schicksal. Ein Mensch mit ehrwürdigem Charakter kann glücklich oder unglücklich sein, aber auch eine verdorbene Persönlichkeit kann glücklich oder unglücklich sein.Zweitens:Die Folgen unseres Verhaltens sind nicht nur auf uns begrenzt, denn im Guten und im Bösen berührt unser Tun das Leben anderer in der Gegenwart und in der Zukunft. Wir können nicht alle Folgen unserer Entscheidungen voraussehen.Drittens:Es könnte sein, dass wir unsicher sind, ob wir für unsere Taten belohnt oder bestraft werden. Aber es gibt eine Möglichkeit, einmoralisches Leben zu führen und nach unserem eigenen Ermessen ethische Entscheidungen zu treffen. In unserem für uns schwierigen Kapitel gibt es eine Hoffnung für sündhaften und irregegangenen Menschen. Es geht um die Teschuwa, um die Umkehr. Wenn man die falschen Taten eingesteht, gibt es einen Weg zur Versöhnung. Das ist das Thema unseres großen Festes Jom Hakipurim. Unser Kapitel in diesem Wochenabschnitt endet mit dem versöhnlichen Vers:„Selbst dann, wenn sich das Volk Israel schon im Land ihrer Feinde aufhält, werde ich sie deswegen nicht verwerfen, dennכי אני יהוה אלוהיכם, ich bleibe der Ewige, ihr Gott.“

Bleibt behütet und gesund! Schabbat Shalom! Euer Senior Rabbi Gábor

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