Grußworte zum Monat Juni und Juli von Jasmin Andriani

Liebe Gemeindemitglieder, Shalom!
Gerade liegt Shavuot hinter uns, was das Ende eines Zyklus im Judentum markiert. Diese spezielle Zeitperiode beginnt mit Pessach, der Freude über den Auszug aus Ägypten. Aus der Sklaverei in die Freiheit verhalf G´tt uns. Aber dennoch fiel es den Israeliten nicht leicht, mit ihrer neuen Situation zurecht zu kommen. Sie murrten und meckerten, wollten zu den Fleischtöpfen in Ägypten zurück. Wir, als Leser der Torah, finden dieses Verhalten lächerlich. Verstanden die Israeliten denn nicht, dass sie Teil von etwas viel Größerem wurden?

Ab Pessach folgt die Omerzeit. Gemäß Leviticus 23, 15f. sollen wir sieben Wochen zählen und am 50. Tag folgt das nächste Fest, Shavuot. Dieser ganze Kreislauf beschreibt die Ernte der wichtigsten Getreidearten: an Pessach erntete man die Gerste und an Shavuot den Weizen. Dies war also eine Zeit, in der die Israeliten sich, nachdem sie die Wüstenwanderung überstanden hatten, intensiv mit der Landwirtschaft beschäftigten. All ihr Reichtum, die Absicherung ihrer Familien lag auf ihren Feldern. Es durfte weder zu viel, noch zu wenig regnen, keine Heuschreckenplage über´s Land kommen und kein Krieg. Nur wenn alles glatt lief, war das Überleben der Menschen gesichert.Was wissen wir heute noch über Gerste und Weizen? Wir können sie und tausende weitere Produkte das ganze Jahr im Supermarkt kaufen. Wir machen uns um die Ernte keine Sorgen. Wir sind unabhängig und kontrollieren die Natur!
Nun ja, nicht ganz. Auch hinter uns liegt eine ganz besondere Zeitperiode. Sie begann kurz vor Pessach, Mitte März. Der Corona-Virus breitete sich auf der ganzen Welt aus und die Politik verordnete den Lockdown. Schulen und Kindergärten schlossen, Theater, Kinos, Konzerte, Feste, Restaurants, Museen waren plötzlich zu. Sehr Viele von uns hatte schnell die Existenzangst erwischt. Man machte sich Sorgen, ob man seinen Betrieb noch weiterführen könne, ob alles, was man sich aufgebaut hatte, erhalten blieb oder verloren war. Wir waren dazu verdammt, zu Hause zu sitzen und abzuwarten. In diesem Sinne war es wie ein umgekehrtes Pessachfest: Von der Freiheit zur Unfreiheit.
Und plötzlich stellten wir fest, dass wir doch nicht unabhängig von der Natur waren, dass wir nicht alles kontrollieren können. Vor Corona haben viele auf der Überholspur gelebt, sich keine Ruhe gegönnt. Die Krise hat uns gezwungen, auf Pause zu drücken. Sie hat uns klar gemacht, dass nicht alles in unserer Hand liegt.
Dennoch haben wir eine große Verantwortung. Für unsere eigene Gesundheit und die unserer Mitmenschen. Endlich beginnen wieder echte G´ttesdienste in der Synagoge. Wir haben die Möglichkeit, wieder zusammen zu sein. Allerdings natürlich nicht so wie früher. Abstand, Masken und Hände waschen gehören vorerst zu unseren Zusammenkünften. Dennoch: Laßt uns die Chance ergreifen! Laßt uns versuchen, nicht an die Fleischtöpfe von Früher zu denken, sondern zu überlegen, wie wir als Gemeinde unsere Zukunft gestalten können.
Liebe Mitglieder, ich wünsche uns Gesundheit und Mut um nach Vorne blicken zu können.
Bereits Rabbi Nachman von Brazlaw kannte diese Lebensweisheit:

כל העולם כלו
גשר צר מאד
והעקר לא לפחד כלל

Die ganze Welt ist eine schmale Brücke und das Wichtigste ist, keine Angst zu haben.
Alles Gute, Jasmin Andriani

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